Kaum geht es an der Börse mal gen Süden, schon werden wieder die ersten Vergleiche zu anderen Crashs gezogen. 2008 sind die sogenannten „Lehman-Zertifikate“ zu trauriger Berühmtheit gelangt. Doch in 2020 hinkt dieser Vergleich sehr.
Zertifikate werden gerne als künstliche Finanzprodukte bezeichnet. Quasi so, als gäbe es so etwas wie natürliche Finanzprodukte, die viel besser sind. Alle Finanzprodukte sind künstlich! Oder hat schon mal jemand ein Sparbuch an einem Baum wachsen sehen? Zertifikate sind Schuldverschreibungen, also Kredite. Die Anleger leihen einer Bank Geld und diese bezahlt es wieder zurück. Lehman ging pleite – daher kam es zu Verlusten. Manche Zertifikate fielen aber auch wegen ihrer Konstruktion aus. Wer das nicht versteht, sollte die Finger von diesen Papieren lassen oder sich ausreichend damit beschäftigen.
Zertifikate sind wichtige und richtige Finanzprodukte. Mit ihnen kann ein Kleinanleger asymmetrisch in die Märkte investieren. Beispiel gefällig? Ein Express-Zertifikat mit dem Basiswert „EuroStoxx50“, das ist der führende Aktienindex für die Eurozone. Steigt der Index auf Sicht eines Jahres, bekommen die Anleger ihr Geld zurück, zzgl. zum Beispiel 3% „Zins“. Dabei spielt es keine Rolle, wie sehr der Index gestiegen ist. Fällt der Index auf Sicht eines Jahres, dann verlängert sich das Zertifikat um ein Jahr. Steht der Index dann am Ende des zweiten Jahres höher (oberhalb eines festgelegten Tilgungslevels), dann bekommen Anleger ihr Geld, zzgl. 6% „Zins“. Und so verlängert sich die Struktur Jahr für Jahr bis zum letzten Bewertungstag (meist 4-6 Jahre): Bei 3% „Zins“ wäre eine Schlussbarriere von z.B. 50% realistisch.
Sogar der billigste Finanzjournalist kann doch nun folgendes erkennen: Anleger können mit Zertifikaten auch dann Geld verdienen, wenn der Basiswert fällt. Mit dem oben skizzierten Zertifikat verdiene ich 3% pro Jahr, und der europäische Aktienmarkt darf sich sogar halbieren! Wenn er das täte, dann hätte ich keinen Spass mit meinen ETFs oder anderen Fonds. Das Zertifikat sichert mein Depot sogar ab. Weil es Restrisiken gibt (z.B. wenn die Barriere reißt), sollte man Zertifikate nur beimischen und stets verschiedene Basiswerte nehmen. Bei Lehman gab es damals übrigens sog. „ständige Barrieren“. Manche Zertifikate wurden sofort wertlos, sobald die Barriere berührt wurde („heißer Draht“). Solche Konstruktionen gibt es zwar immer noch, sind aber in Zeiten einer verbesserten Beratungsqualität nicht mehr all zu oft zu finden.
Woher kommt die Angst? Die neue Angst vor Zertifikaten kommt wahrscheinlich von der täglichen Kursfeststellung. Zertifikate haben ein klares Auszahlungsprofil, mit fixen Beobachtungstagen, Tilgungslevels und Rückzahlungsterminen. Unterjährig stellen die Banken täglich Kurse, zu denen man ein Zertifikat auch freihändig veräußern könnte. Mit diesen täglichen Kursen werden die Zertifikate in den Depots bewertet. In Zeiten von Online- und MobileBanking sehen das dann die Anleger ggf. sogar täglich. In einem Crash gehen natürlich auch diese Kurse nach unten. Ängstliche Anleger sollten dann erstmal prüfen, ob die Auszahlungsstruktur noch intakt ist. Klar, Verluste sehen nie schön aus, aber was man da „online“ sieht, sind nur Tagesbewertungen und haben nichts mit dem künftigen Anlageerfolg zu tun.